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Hunger

Freitag, 14. November 2014

HUNGER.

Du wachst morgens mit dem selben Gefühl auf mit dem du am Abend zuvor eingeschlafen bist: Hunger. Du kuschelst dich in deine Decke und zögerst den Moment aufzustehen so lange wie möglich hinaus. Deine Gedanken kreisen um die Waage. Mehr oder weniger? Du versuchst dir selbst Mut zu machen, redest dir ein, dass es nicht schlimm ist, wenn du nicht exakt diese Zahl erreicht hast, die du für heute geplant hattest, versuchst dir klar zu machen, dass der Tag trotzdem gut werden kann und du nur Geduld haben musst.

Du stehst auf und begibst dich ins Bad. Alles wie jeden Morgen. Das gleiche Ritual. Nackt stehst du davor. Haltung bewaren. Tief Luft holen. Deine kalten Füße lösen sich von den noch viel kälteren Fliesen. Erst der rechte, dann der linke Fuß. Warten. Hinsehen. Akzeptieren. Du steigst hinunter, jetzt musst du damit leben, den ganzen beschissenen Tag lang. Aber halt, lieber noch einmal sicher gehen. Diesmal erst der linke, dann der rechte Fuß. Warten. Hinsehen. Akzeptieren. Du ziehst dich an, schon lange hast du gelernt in deine Socken nur noch im Sitzen hinein zu schlüpfen. Gleichgewicht, was ist das? Irgendwann bist du fertig. Du hast es geschafft. Du hast es geschafft auch diesen Morgen aufzustehen. Mehr als du vielleicht am Abend erwartet hast. Doch bevor du auch nur auf die Idee kommen kannst auf diesen kleinen Erfolg stolz zu sein, schießt dir das Bild der digitalen Zahlen noch einmal durch den Kopf. Oh ja, wow, du kannst ja sooo verdammt stolz auf dich sein.

Egal, schüttel diese Gedanken ab, denn jetzt kommt der schönste Teil des ganzen Morgens. In der Küche füllst du Wasser in die Kanne, das du dann sofort wiederum in die Maschine kippst. 5 Tassen. Ist das zu viel? Du angelst nach der Kaffeedose und öffnest sie. Ein Schwall atemberaubender Gerüche prallt dir entgegen. Deine Sinne spielen verrückt. Wahrnehmung, Geschmack, Bilder rasen durch deinen Kopf, Phantasien von dekadenten Frühstücksorgien. Eins, zwei, drei, vier, fünf gestrichene Löffel sausen in den Filter. Zögern, ein sechster hinterher. Der Gedanke: Koffein regt den Stoffwechsel an und wenn dir schlecht wird, kannst du auch nichts essen. Nach einer Weile beginnt es verheißungsvoll aus der Küche zu gluckern und ein Duft weht durch die Räume, der so ganz anders ist als der konzentrierte des Kaffeepulvers, gierig atmet deine Nase jedes Bisschen davon ein. Nichts davon darf verloren gehen. Deine kalten Finger umklammern eine viel zu heiße Tasse. Du beobachtest wie ein paar Süßstofftabletten mit einen Zischen an die Oberfläche der schwarzen Flüssigkeit steigen und sich rasend schnell in Nichts auflösen. Vorsichtig nippst du an deiner Tasse. Der erste Schluck. Jeden Morgen ein Highlight. Deine lang vermissten Lebensgeister werden geweckt. Geschmack auf deiner Zunge.

ENDLICH.

Du mahnst dich zur Vorsicht. Immer langsam machen, nie unkontrolliert. Behutsam stellst du die Tasse ab und zündest dir eine Zigarette an. Das gleich Spiel. Der erste Zug. Jeden Morgen ein Highlight. Das nach Nahrung schreiende, bohrende Gefühl in deinem Bauch wird leiser und leiser.

ENDLICH.

Die Illusion von Entspannung. Gib dich ihr hin, denn dieser Moment ist der einzige an diesem Tag, an dem du für ein paar Sekunden vergisst. Vergisst, dass du Hunger hast, vergisst, dass du müde bist, vergisst, dass du schwach bist. Du drehst die Musik auf. Je lauter sie ist, desto stiller wird es in dir. Vielleicht schließt du die Augen beim nächsten Schluck, beim nächsten Zug und öffnest für einen kurzen Moment das Türchen hinter dem sich deine Hoffnung verbirgt. Vielleicht wird alles gut werden, vielleicht wirst du heute gut sein, stark genug und Zufriedenheit finden. Dann ist sie da, du weißt nicht woher du sie genommen hast, aber es ist dir auch egal, denn du hast den ganzen verdammten Morgen auf sie gewartet: Die Entschlossenheit.

Du gehst zurück in die Küche. Jeden Schritt den du machst, erscheint dir wertvoll, verbrennt Kalorien, bringt dich näher zu deinem Ziel. Du füllst erneut deine Tasse. Jeden Schluck den du machst, jeder Tropfen, der deine Kehle hinunter läuft, erscheint dir wie Balsam, durchwandert deinen gesamten Körper mit Kraft. Du rauchst noch eine Zigarette und jeder Zug durchströmt deine Lungen mit Mut. Alles ist jetzt gut, alles wird gut werden. Und das Einzige, was du dafür tun musst, ist gut zu sein. Und das kannst du. Du wärst nicht hier, wenn du es nicht schon bewiesen hättest. Vergiss den Weg der noch vor dir legt und schenke dem, den du bereits beschritten hast mehr Beachtung. Lass niemals zu, dass du zweifelst, die Geduld verlierst. Was ist schon Hunger? Was ist schon Schmerz? Wenn man keine Angst zulässt, keine Pausen zum Nachdenken lässt, die Kontrolle nie verliert? Einfach weiter machen. Einfach weiter machen. Du weißt nämlich ganz genau, was dich erwartet, wenn du stehen bleibst, was für bodenlose Abgründe sich vor dir auftun, wenn du nach unten siehst. Und es ist so leicht: Du musst dir einfach nur einreden, dass die Welt verschwindet, wenn du nur fest genug die Augen vor ihr verschließt. Du musst einfach nur daran glauben, dass sich hinter deiner wertlosen Hülle aus Fett und Fleisch dein wahres Ich befindet, das zum Vorschein kommt, wenn es dir endlich gelingt diese Hülle abzustreifen. Du bist kein dummer Mensch, auch wenn du es gerne wärst, aber du weißt, dass dein Problem schon immer die Konzentration war. Du hast dich immer wieder ablenken lassen um dem, was dir Angst macht, nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Du hast gelernt an allen Spiegeln vorbei zu gehen ohne hinzusehen. Du hast gelernt zu zählen, jede Kalorie und wartest jetzt nur noch darauf, dass deine Rechnung endlich aufgeht. Du hast gelernt zu verzichten, weil du wissen willst, was übrig bleibt, wenn die Maske deiner normalen Welt fallen gelassen wurde.

Du schreist und niemand hört dich.
Du weinst und niemand tröstet dich.
Du stirbst und niemand rettet dich.

Doch denk nicht, dass du alleine bist. Denk nicht, dass alles umsonst war. Denn was auch kommt, du hast ja immer noch diese eine Sache, die dir niemand wegnehmen kann, die dich stark macht, diese Leere, die dich von innen heraus füllt. Diese eine Sache mit der alles begonnen hat und mit der, wie du in deinen wenigen vernünftigen Momenten weißt, alles eines Tages auch enden wird. Diese eine Sache, die dich zu dem gemacht hat, was du jetzt bist: Ein großes, dürres Fragezeichen, das mit erhobenen Haupt an allem Essen vorbei geht, während es gleichzeitig innerlich an seinem Schmerz zu verbluten droht. Diese eine Sache, die dir die Luft zum atmen nimmt und dir gleichzeitig den Raum zum weglaufen gibt. Diese eine Sache, die sich eines Tages einfach von deinem Kopf in deinen Bauch gestohlen hat und sich dort nun einnistet und nicht im Traum daran denkt das Feld zu räumen. Diese eine Sache, die es dir ermöglicht hat eine solide Mauer zwischen dir und allem Schmerz zu erbauen und dich damit gleichzeitig in die Einsamkeit verbannt hat. Diese eine Sache, die ihre schützende Hand um dich hält, dich niemals, niemals fallen lassen wird und dich eines Tages zerquetscht. Diese eine Sache, die dich morgens weckt und dich Abends nicht einschlafen lassen will. Diese eine Sache, die dich quält, die dich rettet, die dich aufrecht hält, die dich tötet. Der Hunger. Du stehst auf. Der Tag kann jetzt beginnen. Und ertragen kannst du ihn nur, indem du auf den nächsten hoffst. Denn wer weiß, vielleicht wird dieser ja besser.

Warum du das alles tust?
Warum du nicht einfach zurück kehrst?
Warum du nicht einfach isst?

Weil du einmal damit angefangen hast und nun nicht mehr glauben kannst, dass es noch etwas anderes gibt. Denn du hast alles andere schon längst zerstört, es dir selber weggenommen, aus der Angst heraus, das was du begonnen hast nicht zu Ende bringen zu können. Und nun musst du es zu Ende bringen, denn es gibt keine Alternative mehr. Sei ruhig stolz auf dich. Du hast in deinem Leben ein Ziel. Und auch wenn ein kleiner, stiller Teil von dir genau weiß, dass du es niemals erreichen wirst, gibt es dir Kraft. Denn jetzt, endlich und nur so, kannst du glauben, dass du nicht vor etwas davon, sondern auf etwas zu läufst.

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